Das Durchschnittsalter von Menschen, welche regelmäßig Computerspiele spielen, ist mittlerweile auf über 38 Jahre angestiegen. Und dennoch findet eine Debatte darüber, warum dies so ist, kaum statt. Häufig erschöpft sie sich an einer Kritik an den Inhalten, welche als zu seicht, zu gewaltvoll oder zu trivial geschildert werden und bei den Spielern zu Abstumpfung und Teilnahmslosigkeit führen. Häufig ist in einem Atemzug von “Zeitverschwendung” die Rede. In der bildenden Kunst werden Aspekte bisher nur vereinzelt thematisiert, so zum Beispiel in der aktuellen Sonderausstellung “Welt anschauen” in den Kunstsammlungen am Theaterplatz.
Die US-amerikanische Gamedesignerin Jane McGonigal nimmt die Frage, warum wir in Computerspielen so gerne unsere “Zeit verschwenden” gewissermaßen als Ausgangspunkt für ihr Buch über den möglichen (positiven) Einfluss von Computerspielen auf unser Leben und damit auf unsere Realität. Kurz gesagt: Warum verbringen wir Zeit damit in virtuellen Welten völlig virtuelle Arbeit zu verrichten?
Die Antwort fällt recht einfach aus: Unsere Realität ist kaputt (“Reality is broken” ist der Originaltitel des Buches). Die Aufgaben in virtuellen Welten sind einfach spannender und motivierender gestaltet als die in unserem Alltag. Hinzu kommen laut der Autorin noch andere Vorteil: Oft verfolgt man allein oder in der Gruppe ein höheres oder gar episches Ziel, man bekommt sofort und unmittelbar ein positives Feedback nach einem Erfolg und man wird nicht dafür bezahlt. Letzteres mag kurios klingen, aber es scheint tatsächlich so zu sein, dass Menschen die Motivation verlieren, wenn sie für eine vormals freiwillige Tätigkeit bezahlt werden. McGonigal beschreibt anhand vieler Beispiele die Mechanismen sehr ausführlich und ich kann ihr aus eigenere Erfahrung mit vielen Computerspielen aus den letzten 20 Jahren nur zustimmen.
Und dennoch finde ich das Buch zu optimistisch. Ich finde den Ansatz, sich bei der Struktur von reeller Arbeit an der Struktur von (guten) Quests und Aufgaben zu orientieren (Höheres Ziel, Unmittelbare Belohnung, Soziale Bindungen bei gemeinsamen Streben zum Ziel) prinzipiell nicht schlecht. Die Autorin verliert aber auf den über 450 Seiten kaum ein Wort über die Gefahren welche solche Strukturen mit sich bringen. Immerhin würden sich mit dem von der Autorin favorisierten (Spiel-) Schema (Höheres Ziel, Unmittelbare Belohnung, Soziale Bindungen bei gemeinsamen Streben zum Ziel) auch die Dynamiken von vielen radikalen Gruppen beschreiben. McGonigal schreibt darüber nichts, nennt stattdessen allerdings viele positive Beispiele aus den letzten Jahren.
Wer sich schon immer gefragt hat, wieso so viele Menschen in ihrer Freizeit virtuelle Arbeit in Phantasiewelten erledigen und dazu noch erfahren möchte, wie sich dies gesellschaftlich nutzen lässt oder schon genutzt wurde, dem kann ich das Buch empfehlen.
Und wer sich mit etwas klassischer Lebenskunst befassen möchte, dem empfehle ich das Buch “Ikigai” von Ken Mogi. Man wird sogar einige Überschneidungen zu McGonigals Argumentation finden.